Eine Welt mit Industrie 4.0

January 17, 2021
8 min
Industrie 4.0
Credits to Pexels from pixabay.com

Im vorherigen Beitrag wurde erklärt, warum man unter dem Begriff „Industrie 4.0“ die vierte industrielle Revolution versteht. Ihr habt also einen ersten Eindruck der historischen und technischen Hintergründe und Entwicklungen erhalten. In diesem Beitrag möchten wir genauer auf Möglichkeiten eingehen, die sich durch Industrie 4.0 bieten und welche anderen Effekte der technologische Fortschritt nach sich zieht. Dabei lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit – denn unsere Gesellschaft hat diesen Wandel schon drei Mal bewältigt.

Nebeneffekte technologischen Fortschritts

Die erste industrielle Revolution veränderte das Leben der Bevölkerung enorm. Die Gesellschaft vor der Industrialisierung war geprägt von Landwirtschaft und kleinen Handwerksbetrieben. Im Zuge der Industrialisierung zogen viele Menschen in Städte und neu geschaffene Ballungsräume wie das Ruhrgebiet und arbeiteten in Fabriken. Im Jahr 1882 waren in Deutschland 8,2 Millionen Menschen in der Land-und Forstwirtschaft und 6,4 Millionen Menschen in Industrie und Handwerkerwerbstätig. 25 Jahre später standen 9,8 Millionen Land- und Forstwirten schon 11,3 Millionen Erwerbstätige in Industrie und Handwerk gegenüber. Die gesamte Bevölkerungszahl stieg ebenfalls an. So stieg die Einwohnerzahl desdamaligen Preußen von 21,3 Millionen 1855 auf 27,3 Millionen 1880 und 40,2 Millionen 1910. Innerhalb von 55 Jahren hatte sich die Bevölkerung demnach fast verdoppelt, in urbanen Bereichen wie Berlin sogar mehr als vervierfacht [1]. Auch waren die innerdeutschen Migrationsströme an natürliche Gegebenheiten gebunden. Zuvor wenig besiedelte Bereiche wie das Ruhrgebiet wurden aufgrund der Bodenschätze zu großen Ballungsgebieten. Der sprungartige Anstieg der Bevölkerung sorgte auch dafür, dass Menschen in Gegenden, in denen das Arbeitsplatzangebot nicht vergleichbar schnell anstieg, massenhaft auswanderten. Ende des 19. Jahrhunderts wanderten beispielsweise ca. 200.000 Menschen aus dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg aus, die meisten davon in die USA [2].

Bild eines Hochofens im Ruhrgebiet
Ein Hochofen im Ruhrgebiet, Credits to 132369 from pixabay.com

Der steigende Wohlstand durch die veränderte Technologie und Arbeitswelt führte zu Fragen der Verteilung und Mitbestimmung. Missstände in den Arbeitsbedingungen führten zu Gründungen von Gewerkschaften und neuen politischen Parteien. In den 1880er Jahren wurden als Antwort auf die veränderten Arbeitsbedingungen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen eingeführt [3]. Eine weitere Antwort auf das steigende Wohlstandsbedürfnis der Bevölkerung war die Massenproduktion, die durch immer effizientere Arbeitsweisen ermöglicht wurde. Doch nicht nur in technologischen Bereichen gab es stets neue Entwicklungen – auch das Betreiben einer Fabrik wurde durch die Betriebswirtschaftslehre erstmalig wissenschaftlich untersucht [4].

Die industrielle Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg führte zu noch größerer Produktion und noch größerem Wohlstand. Insbesondere durch Innovationen im Bereich der Elektronik konnten Produktionsschritte verbessert und mehr Produkte zu kleineren Preisen gefertigt werden. Sind Fertigungslinien einmal eingestellt, können hohe Stückzahlen in niedriger Zeit gefertigt werden. Dies führt dazu, dass etwas neu produziertes oft günstiger ist als eine Reparatur, ein Umbau oder eine Wiederverwendung. Wegen der ökologischen Folgen der Massenproduktion zielt eines der 17 „Global Goals“ der Vereinten Nationen heutzutage daher auf ein nachhaltiges Konsumieren und Produzieren ab. Der weltweite Verbrauch an Rohstoffen und Energie soll als Resultat dieser Zielsetzung abnehmen [5]. Wir stehen also am Beginn grundlegender Veränderungen der Art, in welcher Weise wir Konsumgüter produzieren wollen. Um das Ziel eines geringeren Rohstoff- und Energiebedarfs zu erreichen, bedarf es technologischen Fortschritts. Im folgenden Absatz möchten wir euch zeigen, welche Möglichkeiten zukünftige Technologien bieten und welches Leitbild bei den Entwicklungen rund um Industrie 4.0 verfolgt wird.  

Welche technologischen Änderungen bringt Industrie 4.0?

Wie im vorigen Beitrag erklärt wurde, beschreibt Industrie 4.0 auf der technischen Ebene den Übergang von speicherbasierten Steuerungen und Regelungen hinzu vernetzten und interoperablen Komponenten, die ihnen zugewiesene Aufgaben flexibel lösen. Im Folgenden möchten wir euch einige Beispiele geben, welche Dinge in einer „Industrie 4.0 Welt“ möglich wären.

Die Plattform Industrie 4.0 hat in einem Ergebnispapier die flexible Fertigung eines vom Kunden individuell konfigurierten Fahrradlenkers beschrieben [6]. Der Fahrradlenker steht dabei exemplarisch für alle industriell produzierten Güter. Bei der Konfiguration des Fahrrads können Kunden den Lenker des Rads in seiner Geometrie und seinem Design frei gestalten. Der Konfigurator prüft die technische Machbarkeit automatisch und erstellt ein passendes Datenmodell des Lenkers, das sämtliche technischen Informationen beinhaltet. Da die Lenker Zulieferteile sind, wird die digitale Abbildung des Lenkers automatisiert in einem Vermittlungsdienstausgeschrieben. Die Systeme der möglichen Zulieferer, die Zugriff auf den Vermittlungsdienst haben, überprüfen die Kompatibilität zur Ausschreibung auf freie Produktionskapazitäten, die technische Machbarkeit und den Preisrahmen und geben gegebenenfalls ein Angebot ab. Ein Algorithmus des Herstellers bewertet die Angebote der Zulieferer und wählt eines aus. Bewertungskriterien können dabei technische, kaufmännische oder soziale Präferenzen sein. Durch die Auswahl kommt es automatisiert zu einem rechtsgültigen Vertrag zwischen dem Fahrradhersteller und dem Zulieferer und die Produktion des Lenkers beginnt. Das hinterlegte Datenmodell, das die IT-Systeme aller beteiligten Parteienverstehen, kann somit dazu beitragen, dass der Prozess von der kundenindividuellen Konfiguration bis zur Produktion des Lenkers vollautomatisiert abläuft.  

Ablauf des automatisierten Bestellprozesses eines kundenindividuellen Fahrradlenkers mit Industrie 4.0
Bestellprozess eines kundenindividuellen Fahrradlenkers nach [6]

Dies setzt jedoch auch voraus, dass die Fabriken der Zulieferer auf die kundenindividuellen Wünsche automatisch reagieren können, also automatisiert fertigen. Unter einer automatisierten Fertigung würde man sich heutzutage eine Fabrik vorstellen, die identische Fahrradlenker in hohen Stückzahlen (teil-)automatisiert herstellt. Da sich im beschriebenen Szenario die Kundenwünsche stets ändern können, ist der Zulieferer dazu gezwungen, seine Produktionsprozesse flexibler zu gestalten und die Fabrik stets den sich ändernden Anforderungen anzupassen. Im Anwendungsszenario „Wandlungsfähige Fabrik“ der Plattform Industrie 4.0 wird beschrieben, wie eine Fabrik auf kurzfristige Änderungen von Produktionskapazitäten und -fähigkeiten angepasst werden kann [7]. Ein Beispiel: Zum Lackieren des Lenkers standen dem Zulieferer bisher zwei Möglichkeiten zur Verfügung, die Oberfläche des Lenkers zu bearbeiten: Entweder durch Lackieren oder durch Pulverbeschichten. Durch sich ändernde Kundenwünsche möchte der Betreiber der Fabrik nun auch zusätzlich die Möglichkeit haben, Lenker zu verchromen. Mit der heutigen Technik müsste die Automatisierung der Fertigungslinie aufwändig umgebaut werden. Es müssten beispielsweise Regeln definiert werden, welche Materialien verchromt werden können und welche nicht. Im Anwendungsszenario könnte die neue Maschine zum Verchromen der Lenkernahtlos in die bestehende Fertigung integriert werden. Durch die hinterlegten Informationen über Material und sonstiger Beschaffenheit könnten die Maschinen selbst entscheiden, welche Oberflächen sie behandeln können und welche nicht.

In einem Szenario aus einem anderen Fachbereich könnten selbsthandelnde Komponenten die Effizienz der Energieerzeugung eines Gebäudes steigern [8]. In modernen Gebäuden werden oft verschiedene Erzeuger zu einem Energieerzeugungssystem kombiniert – beispielsweise kann es vorkommen, dass in einem Gebäude eine Wärmepumpe, ein Solarkollektor und ein Gaskessel installiert sind. Damit wird versucht, gesetzliche Regelungen zur Nutzung erneuerbarer Energie einzuhalten und/oder Gebäude möglichst kostengünstig betreiben zu können. Die optimale Regelung dieser Systeme ist mit heutiger Technik jedoch schwierig, da vor dem Betrieb eingestellt werden muss, bei welchen Umwelt- und Nutzungsbedingungen welche Erzeuger am effizientesten arbeiten und wann eine Speicherung von Wärme sinnvoll ist, beispielsweise bei Sonnenschein oder günstigen Bedingungen für den Betrieb der Wärmepumpe. Ordnet man die verschiedenen Wärmeerzeuger analog zu den beiden anderen Anwendungsszenarien auch als intelligente Betriebsmittel ein, so könnte die Auswahl der zu nutzenden Energiequelle unter Berücksichtigung des aktuellen und zukünftigen Bedarfs durch die Komponenten selbst stattfinden, ohne dass dem System dafür starre Einstellparameter vorgegeben werden müssen.

Nebeneffekte von Industrie 4.0

Wie eben beschrieben, bieten die Entwicklungen rund um Industrie 4.0 viele Möglichkeiten für die industrielle Fertigung und das Zusammenspiel technischer Systeme. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass durch den technologischen Fortschritt auch Veränderungen jenseits von Fabrikhallen einsetzen werden. Durch die beschriebenen Prozesse ändert sich nicht nur die Art des Produzierens, auch industrielle Wertschöpfungsprozesse müssen neu gedacht und an die Flexibilität der Produktionen angepasst werden. Da technische und ökonomische Reformen auch Folgen im politischen, gesellschaftlichen und sozialen Bereich haben, müssen auch diese schon vorab bedacht werden. Neben Fachkreisen, die sich mit der technologischen Entwicklung befassen, werden in anderen Arbeitsgruppen der Plattform Industrie 4.0 auch rechtliche Rahmenbedingungen, digitale Geschäftsmodelle und Themen, die die Arbeit und die Aus- und Weiterbildung betreffen, diskutiert [9].

Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob Maschinen einen rechtsgültigen Vertrag abschließen dürfen und wer für den Kauf haftet. In Bezug auf die automatisierte Produktion des Fahrradlenkers müsste jedenfalls ein juristischer Rahmen dafür gefunden werden, da für ein solches Geschäftsmodell naturgemäß keine rechtlichen Regelungen vorliegen. Das Bürgerliche Gesetzbuch ist auf menschliche Willenserklärungen ausgelegt, die unter der Hilfe von digitaler Kommunikation stattfinden kann, beispielsweise in einem Online-Shop. Auf eine direkte Maschinenkommunikation gibt es keine anwendbaren Regeln [10]. Für Interessierte werden hier verschiedene Testszenarien unter juristischem Gesichtspunkt erforscht. Ein weiterer zentraler Punkt der rechtlichen Anforderungen zielt auf das Datenmodell des Lenkers ab: Wenn der individuell konfigurierte Lenker Informationen über den Besteller enthält, sollte der Zulieferer diese erhalten? Auch hierfür muss ein rechtlicher Rahmen gefunden werden, der beispielsweise eine verpflichtende Anonymisierung der Kundendaten zum Ziel hat.

Die technologischen Änderungen werden auch die Art, wie wir arbeiten, stark verändern. Im Beispielszenario des Fahrradlenkers läuft der Bestellprozess automatisiert ab und auch in der Produktion können viele Arbeitsschritte von Maschinen übernommen werden oder finden in Zusammenarbeit mit Maschinen statt. Es stellt sich also die Frage, welche Prozesse zukünftig von Menschen übernommen werden. Man geht davon aus, dass auch in Zukunft Menschen die entscheidenden Innovationstreiber sein werden, der Anteil der Routinetätigkeiten, die von Maschinen ausgeführt werden, jedoch steigen wird. Menschliche Eingriffe werden demnach vor allem für Entscheidungen gebraucht, die kein Algorithmus ersetzen kann [11]. Bei Tätigkeiten, die von Maschinen übernommen werden, spricht man von Substituierung. Man ging in einer Studie aus dem Jahr 2015 davon aus, dass schon 2013 etwa 15% aller Beschäftigten in Deutschland mit steigender Tendenz einem hohen Substituierungspotenzial ausgesetzt sind. Das bedeutet, dass mehr als 70% der Tätigkeiten durch Maschinen ersetzt werden könnten [12]. Besonders fertigende Tätigkeiten seien demnach mit einem Substituierungspotenzial von durchschnittlich über 70% betroffen. Auch in der Unternehmensführung und -organisation könnten bis zu 50% der Tätigkeiten durch Computer übernommen werden. Besonders niedrig liegt das durchschnittliche Potenzial bei medizinischen, sozialen oder kulturellen Tätigkeiten und Berufen im Sicherheits- und Reinigungsbereich.

Veränderung gestalten

Der technologische Fortschritt hat in den vergangenen industriellen Revolutionen viele gesellschaftliche, politische und soziale Veränderungen vorangetrieben. Es ist davon auszugehen, dass auch zukünftige technische Innovationen weitreichende Veränderungen zur Folge haben werden. Im Leitbild 2030 der Plattform 2030 wird beschrieben, wie diese Veränderungen aktiv gestaltet werden sollen [13]. Im Bereich der Arbeit und Beschäftigung wird die Digitalisierung als der Schlüssel für eine zukünftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschland beschrieben. Als Übergeordnetes Ziel der vierten Industriellen Revolution wird zudem die gesamtgesellschaftliche Teilhabe an den Innovationen genannt. Im Sinne der „Global Goals“ der Vereinten Nationen ermögliche es Industrie 4.0 außerdem, die Ressourceneffizienz zu steigern. Im Zuge der vierten industriellen Revolution gibt es also viele Aspekte zu beachten, um aus der technologischen Entwicklung auch eine gesellschaftliche Entwicklung zu gestalten. In den nächsten Artikeln liegt jedoch das Hauptaugenmerk auf den technischen Einzelheiten von Industrie 4.0.

Referenzen
Portrait of Blogger
Nicolai Maisch
<  Previous
Industrie 4.0 – Die digitale Transformation der Industrie - Woher kommt der Begriff und was zeichnet die vierte industrielle Revolution aus?
Next  >
Was bringt uns die Losgröße 1?

Kommentare